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Leseprobe

Walter Weil

Die Burg der Tugenden

Band 2:


Der Weg zum Gral


Als ob es der angenehmen Überraschungen noch nicht genug wäre, präsentierte Gunthar seinen Schützlingen an einem dieser Tage die Einladung einer im Dorf wohnenden Frau, in ihr Haus überzusiedeln. Der Waräger hatte diese Dame zwar schon einmal erwähnt und auch, welche Wunderdinge sie zu tun imstande sei, aber die Templertruppe fühlte sich so wohl an ihrem momentanen Standort, daß keiner Lust hatte, umzuziehen.

"Ihr könnt das nicht ablehnen", sagte Gunthar. "Die Einladung ist eine Ehre für uns."

"Aber wenn wir hier ausziehen, stoßen wir doch unsere so freundlichen Hausleute vor den Kopf!" meinte Konrad von Trockau.

"Keineswegs. Sie gönnen euch die Ehre, von dieser Dame empfangen zu werden."

Das Haus, in das sie nun umzogen, war nur fünfhundert Fuß entfernt. Rudolf musterte es von weitem. Es war in der Tat das schönste und geräumigste Gebäude im Ort, mit offensichtlich zwei voll ausgebauten Stockwerken.

"In diesem Haus werden sich die Meister nächstens versammeln", erklärte Gunthar.

Die Haustür stand offen, als wäre es Sommer, und als sie mit Sack und Pack ankamen, erschien eine vielleicht achtzehnjährige Dame im Eingang.

Gunthar ging lächelnd auf sie zu. Sie faßten sich an den Händen und die bildschöne junge Frau begrüßte den Waräger mit den Worten: "Nun hast du alter Weltenbummler endlich mal wieder den Weg zu uns gefunden! Ich freue mich so, dich und deine Gefährten für eine Weile um mich zu haben!"

Die Mannen, die neugierig diese Szene beobachteten, brauchten einen Augenblick, ehe Rudolf als erstem bewußt wurde, daß sie jedes Wort verstanden hatten. Die schöne Jungfrau hatte eine wie ein Glockenton schwingende Stimme, die ihr perfektes Deutsch mit einem leichten, weichen Akzent noch angenehmer machte.

Der Einzug war bald bewerkstelligt. Es schien, als ob das gesamte obere Stockwerk einzig dazu diente, Gäste zu beherbergen. Jeder bekam eine Kammer für sich, und die Mahlzeiten sollten gemeinsam in einem Eßraum im Untergeschoß eingenommen werden. Was die so weit gereisten und mit ihrer europäischen Auffassung verwachsenen Templer heimlich im Sinn trugen, war die Frage, wie diese zarte und kaum dem Mädchenalter entwachsene Frau mit den an rauhe Sitten gewöhnten Männern zurechtkommen werde.

Einen Ausblick, wie das Leben sich für sie ernährungsmäßig gestalten würde, erhielten sie durch das Mittagessen. Die Tafel war reichhaltig, es gab mehrere Arten von unbekannten Pflanzen, teils gekocht, teils als Salate, was für die Jahreszeit ungewöhnlich war. Ferner prunkten Glasschalen mit frischem Obst, das bestimmt nicht jetzt im Dezember gepflückt worden war. Eine Schüssel mit gekochtem Getreide dampfte auf dem Tisch, auch Brot, Butter und Käse war vorhanden - aber es gab kein Fleisch.

Die vier Templermannen standen linkisch um die Tafel herum. Es sah aus, als trauten sie sich nicht, Platz zu nehmen und das kostbar aussehende Geschirr zu benutzen. Erst als Gunthar den Anfang machte, sich einen Teller nahm und ihn mit verschiedenen Speisen belud, faßten sich die übrigen ein Herz und griffen ebenfalls zu. Bald zeigte es sich, daß ihnen das Essen mundete, auch ohne Fleisch.

Die strahlend schöne Gastgeberin hatte sich zu ihnen gesetzt und schien sich zu freuen, daß ihre männlichen Gäste herzhaft zugriffen.

Es war, wie sollte es auch anders sein, Meister Konrad, der den Bann brach: "Das, ehrwürdige Dame, ist das beste Essen, das mir je kredenzt wurde. Bei Euch muß ein Meisterkoch beschäftigt sein, habe ich recht?"

Die junge Frau lachte. "Nein, mein Herr, Ihr habt nicht recht! Ich bin in diesem Haus allein beschäftigt."

"Bei meinem..." Den Rest verkniff sich der gute Meister und fragte stattdessen: "Ihr habt das alles allein zubereitet?"

"O ja, es ist ganz einfach. Aber ich bitte Euch um Geduld. Wie das zugeht, werdet ihr alle bei unserer bevorstehenden Versammlung erfahren."

"Wann wird das sein?"

"Am letzten Dezemberabend."

Die junge Frau erhob sich und sagte: "Meine Herren, verzeiht mir, aber ich muß euch jetzt für eine Weile allein lassen, um im Dorf jemand aufzusuchen, der in Not ist. Und vergeßt nicht, mein Haus steht zu eurer Verfügung."

Als sie fort war, wandte Meister Konrad sich an Gunthar: "Sagt mal, wie kann diese so junge Frau es bewerkstelligen, eine solche Menge an ausgewählten Speisen in so kurzer Zeit zu beschaffen, diese so schmackhaft zuzubereiten und zu servieren. Ganz zu schweigen, daß die erstklassige Zubereitung normalerweise einen erfahrenen Koch und ein halbes Dutzend Hilfskräfte erfordert?"

"Das ist ihr Geheimnis", sagte Gunthar lächelnd, "und sie wird es Euch enthüllen, sobald sie die Zeit dafür gekommen hält."